Shortstory - Die Lichtung

Meine Frau ist verschwunden, können sie sich das vorstellen? Aber sie kennen meine Frau ja gar nicht. Eigentlich ist sie immer zuverlässig, immer pünktlich und so. In den letzten Wochen war sie  manchmal komisch drauf, hat geweint, ohne dass ich einen Grund gesehen hätte. Oder sie stöhnte, dass es nicht mehr auszuhalten wäre.

 

Ich habe das nicht ernst genommen. Frauen sind halt so. Doch vorhin rief ihr Chef an. Ob Anja krank wäre oder wieso sie nicht ins Büro gekommen sei? Da stand ich dumm da. Ich murmelte was und entschuldigte sie. Dann musste ich mich aus meiner Firma raus mogeln und nun bin ich bei uns zu Hause.

 

Nicht, dass sie denken, ich habe Angst um sie. Nein, ich bin wütend. Ich weiß, Anja hat sich nichts angetan. Aber ihr Handy liegt auf dem Couchtisch hier.


Das habe ich ihr zum Geburtstag geschenkt, ein tolles Smartphone, und sie lässt es liegen. Anja mag keine Technik. Mann, bin ich wütend. Und sauer. Wo soll ich mit der Suche anfangen.

 

Ah – eine SMS, von Sabine, Anjas Schwester. Sie meint, Anja wäre vielleicht im Bergwald. Treffer. Die Lichtung am Fluss, idyllisch und versteckt. Bestimmt ist sie dort. Hätte ich ja selbst drauf kommen können. Sie möchte am liebsten jedes Wochenende dahin. O.K. Dann mal los.

 

Ab hier muss ich laufen, das Auto am Waldrand stehenlassen. Wieso nur hat sie ihr Handy nicht dabei? Zwischen den Bäumen, bei der Lichtung hängt unser Handtuch, das mit der eingewebten Rosenkante. Ich hab sie. Fast. Sie ist nirgends zu sehen. Mist. Dann muss ich mich eben ans Ufer setzen und warten.

 

Da sitzt er nun, und meine Freiheit ist dahin. Wie hat er mich so schnell gefunden? Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Gleich werde ich hingehen und ihm – ihm was? Oder soll ich ihn zappeln lassen? Nein, deshalb bin ich nicht hier her gekommen. Der Wald hat mich gerufen.

Ich wollte den Wundmalen der Stadt entkommen. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Dort bekomme ich keine Luft. Jetzt erst recht nicht. Die Bäume hier sind mein Schutzmantel. Aber mein Ralf, wie er da sitzt und auf den Fluss guckt, als könnte er ihn irgendwie festnageln. Ich liebe ihn. Ich muss zu ihm.

 

„Anja“

„Ralf“

„Anja, mein Schatz. Was machst du hier?“

„Ich musste raus.“

„Aber ohne was zu sagen! Anja. Wir haben uns Sorgen gemacht, dein Chef – Anja, warum weinst du jetzt?“

„Ralf, bitte.“

„Gut, setzen wir uns hin. Beruhige dich. Alles wird gut.“

 

„Ich halte es in der Stadt nicht aus.“

„Ich weiß“

„In den letzten Wochen bin ich fast verrückt geworden.“

„Warum? Was war anders in der letzten Zeit?“

„Ralf, schau mich an. Kannst du dir das nicht denken?“

„Du bist wieder schwanger? Wirklich? Gut. Dann weine so viel du willst. Das ist doch wunderbar.“

„Ich habe Angst.“

„Diesmal klappt es.“

„Das haben wir beim letzten Mal auch gedacht.“

„Diesmal doch. Ich spüre das.“

„Seit wann vertraust du deinem Bauchgefühl? Sonst guckst du immer auf dein Handy, wenn du was wissen willst.“

„Trotzdem habe ich dich gefunden.“

„Stimmt.“

 

„Wenn die Natur dir hilft und dich tröstet, dann werden wir jetzt viel draußen sein.“

„Ralf, ich möchte für immer aus der Stadt raus.“

„Was du willst. Ich tue alles, wenn du mir versprichst, nicht mehr einfach so zu verschwinden.“

„Wenn du mir versprichst, dass unser Kind es schaffen wird.“

„Ich verspreche hiermit feierlich - nein, das geht nicht. Ich kann das nicht versprechen.“

„Jetzt musst du auch weinen. Weißt du Ralf, hier mit dir gemeinsam zu weinen, das tröstet mich.“

„Mich auch.“

 


 Bine sammelt Geschichten zur Entschleunigung

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