Liebe Anne Frank,
heute ist dein Geburtstag, der 85. Letzte Woche erst war ich beim 85. Geburtstag meiner Schwiegeroma, die ein fröhliches Fest gefeiert hat. Ich wünsche, du könntest deinen Geburtstag heute genauso begehen. Wie viele solcher Geburtstage gibt es, die nicht gefeiert werden können, weil dem Geburtstagskind gewaltsam das Leben genommen wurde? Was spüren wir davon?
Du bist ein wichtiger Mensch in meinem Leben. Dein Tagebuch begleitet mich schon lange. Dafür möchte ich dir heute danke sagen. Ich war in Amsterdam, im Hinterhaus. Aber dort fand ich dich nicht. Selbst wenn ich dich in Frankfurt am Main suche, oder in Westerbork, in Auschwitz-Birkenau oder Bergen-Belsen: da sind Erinnerungsspuren an dich. Dich selbst finde ich dort nicht. In deinen Zeilen bist du mir nahe. So nahe, dass ich mir nicht vorstellen mag, wie es dir in den letzten Monaten deines Lebens gegangen sein muss.
Vielleicht ist es genau das, was dich zu einem Mythos macht: deine Lebendigkeit im Tagebuch und die Grausamkeit, die dir diese Lebendigkeit nahm. Durch dich wird der Holocaust greifbarer als durch große Zahlen. Millionen Menschen, Millionen ausgelöschte Lebendigkeiten.
Liebe Anne, du hast beim Schreiben im Hinterhaus deinen Weg gefunden, um innerlich zu wachsen, um deine Schwierigkeiten zu verarbeiten und um tiefer zu leben. Das habeich von dir gelernt. Zwar bin ich nicht eingesperrt und bedroht. Mir ist ein freies und behütetes Leben geschenkt worden. Dennoch gab es schon Situationen, die beängstigend waren, aussichtslos, bar jeder Hoffnung. Wenn nichts mehr ging, konnte ich immer noch schreiben.
Weißt du, vom ersten Geld, das ich mit Schreiben verdient habe, es war ein Artikel für unsere Tageszeitung, von diesem Geld habe ich mir die kritische Gesamtausgabe deiner Tagebücher geleistet.
Was ich hier tue, dir ins Leere hinein schreiben, hilft dir nicht mehr. Aber heute, an deinem Geburtstag, gibt es für mich nichts sinnvolleres, als dir zu schreiben. So wie du mir und allen, die deine Tagebücher lesen, geschrieben hast.
Liebe Anne, die Welt ist immer noch voller Grausamkeiten und Krieg. Hilflos stehe ich da und frage mich: was kann ich da schon tun? Dagegen anschreiben? Wie naiv. Allerdings, dein Tagebuch, die Zeilen eines Backfisches, der erst untertauchen musste und dann ermordet wurde, dein Tagebuch ist langlebiger als das Tausendjährige Reich. Du wolltest dennoch an das Gute im Menschen glauben. Das will ich auch.
Deine Lucia
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P. (Freitag, 13 Juni 2014 16:54)
Die grausame Welt des Holocaust haben wir in Deutsch anhand eines anderen Buches besprochen. Sehr schade, wenn ich diese berührenden Zeilen hier lese.
Danke für die tollen Worte an Anne Frank, Lucia!
luciahenke (Samstag, 14 Juni 2014 07:11)
Danke für diese Rückmeldung. Anne Frank habe ich auch nicht in der Schule kennen gelernt.
Viele Grüße von Lucia