Die Glocke - eine Weihnachtsgeschichte

Porzellanglocke

„Das da, Schwester, das ist für Sie.“ Sie zeigte auf die Schachtel auf dem Nachttisch. „Ein Weihnachtsgeschenk mitten im Juni!“ lachte sie. Ich lächelte auch. Auch wenn es Kraft kostete. Wir wussten beide, warum sie mir schon im Sommer etwas schenken wollte.

 

Jetzt stehe ich vor meinem Christbaum und packe die Schachtel wieder aus. Zartes Porzellan, eine kleine weiße Glocke an rotem Band. Sie klingelt sanft und zart mit einem klaren Ton. Sie wird einen Ehrenplatz bekommen.

 

Meine Patientin hat alles in Bewegung gesetzt, um mitten im Sommer an diese Glocke zu kommen. Selbst konnte sie nicht mehr einkaufen. Jetzt hängt diese Glocke an meinem Baum, so wie sie es gewollt hatte. Einfach ist das nicht. Die Tränen drücken. Wie unprofessionell. Aber bin ich gerade im Dienst?

 

Da ist immer noch Trauer. Die Beerdigung war vor drei Monaten, gleich nach meinem Urlaub Anfang September. Wieso hat sie mir diese Glocke geschenkt? Damit ich jetzt an sie denke? Was nutzt ihr das jetzt noch? Aber vielleicht tröstete damals der Gedanke, dass ich nun Jahr für Jahr in Gedanken bei ihr bin, wenn ich die Glocke aus der Schachtel hole. Weihnachten hat sie geliebt, das weiß ich. Aber warum? Das habe ich sie nie gefragt.

 

Diese Glocke: ich glaube nicht, dass sie eine so banale Botschaft hat wie: das wertvollste Geschenk im Leben ist das Leben selbst. Obwohl, ist das banal? Ich glaube, neben der Erinnerung an diese tapfere Frau sind es die leisen Töne der Glocke, die mir etwas sagen.

 

Die leisen Töne sind bei meinen Kranken das Wichtigste. Die strenge Organisation unseres Dienstes sagt etwas anderes. Ins Auto, zum nächsten Patienten, berechnet sind die Minuten für jeden einzelnen Handschlag. Für ein gutes Wort oder fürs Zuhören wird keine Zeit veranschlagt. Wir scherzen manchmal: aus unserem Pflegedienst ist ein Express-Service geworden. Galgenhumor hilft. Manchmal.

 

Es ist schwer, nicht in der Routine zu erstarren. Das Anschwimmen gegen diese Geschwindigkeit kostet viel Kraft. Ich verzweifle täglich daran. Diese Glocke sagt mir etwas anderes: vielleicht mache ich es doch richtig. Hätte sie mir sonst dieses Geschenk gemacht?

 


 

Edit: Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, die mir erzählt wurde.

Ich tippte gestern Morgen meinen ersten handschriftlichen Entwurf ab. Gestern Mittag kam ein Freund zu Besuch und schenkte mir  genau so eine Glocke, wie ich sie mir für diese Geschichte ausgemalt hatte! Ein Wunder. 

 

Ich wünsche Euch allen eine Weihnachtszeit voller Wunder, voller Hoffnung und mit einem Ohr für die leisen Töne.

 

Eure Lucia

 

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